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Völlige Reintegration? Die ehemaligen Gestapo-Mitarbeiter ab 1950

Die junge Bundesrepublik stand vor dem Problem, Millionen Menschen, die nur wenige Jahre zuvor den Nationalsozialismus begrüßt, unterstützt und verteidigt hatten, politisch und sozial in eine Demokratie zu integrieren. Dies galt auch hinsichtlich der einstigen Mitarbeiter der Gestapo.

Für die ehemaligen Gestapo-Mitarbeiter war die rechtliche Lage bezüglich einer Wiederbeschäftigung im öffentlichen Dienst wie etwa bei der Polizei zunächst klar. Waren sie von den Spruchkammern als Hauptschuldige oder Belastete eingestuft worden, war ihnen eine Wiederbeschäftigung im öffentlichen Dienst verwehrt. Für alle Minderbelasteten und Mitläufer gab es dagegen keine Berufsbeschränkungen. Sie konnten sich regulär bewerben, hatten allerdings auch als ehemalige Beamte oder Angestellte im öffentlichen Dienst kein automatisches Recht auf Wiedereinstellung.

In der Praxis wurden bis 1949 fast keine früheren Gestapo-Mitarbeiter aus Württemberg und Hohenzollern in den Polizeidienst übernommen. Die Personalausschüsse der Polizeidienststellen waren meist hinreichend sensibilisiert, um eine Einstellung solcher Bewerber abzulehnen. Das änderte sich jedoch Anfang der 1950er Jahre.

Rehabilitierung der Gestapo-Mitarbeiter? Die „131er“

Am 10. April 1951 verabschiedete der Deutsche Bundestag einstimmig bei zwei Enthaltungen das „Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen“ – also solchen Personen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs im öffentlichen Dienst gestanden hatten. Damit verpflichtete der Gesetzgeber die öffentliche Hand, die Beamten und Angestellten des so genannten Dritten Reichs, sofern sie nicht als Hauptschuldige oder Belastete eingestuft worden waren, wieder einzustellen und die während des „Dritten Reichs“ abgeleisteten Dienstzeiten bei der Berechnung der Pensionen zu berücksichtigen.

Ostentativ wurden Angehörige der Geheimen Staatspolizei in Paragraf 3, Absatz 4 von dieser Regelung ausgenommen – allerdings wurde ihnen in Paragraf 67 ein großes Schlupfloch gelassen. Waren sie „von Amts wegen [zur Gestapo] versetzt“ worden, sollten sie doch in den Genuss der neuen Bestimmungen kommen. Allerdings ist eine Versetzung „von Amts wegen“ mitnichten gleichbedeutend mit einer Versetzung „wider Willen“. Im Gegenteil war sie die Regel bei einer Behörde wie der Gestapo, die überhaupt erst durch die Versetzung von Beamten aus anderen Teilen der Polizei entstanden war.

Der Wortlaut des Gesetzes trübte dennoch zunächst die Aussicht ehemaliger Gestapo-Mitarbeiter, wieder im öffentlichen Dienst beschäftigt zu werden. Sie mussten fortan den Nachweis erbringen, „von Amts wegen“ versetzt worden zu sein, was sich angesichts der Tatsache, dass ein großer Teil der Personalunterlagen mutwillig oder durch Luftangriffe vernichtet worden war, oft als schwierig erwies. Hatten sie diese Hürde allerdings genommen, winkten ihnen Rechte, die sie vorher nicht gehabt hatten. Von weit größerer Bedeutung als der Buchstabe des Gesetzes war allerdings die mit ihm einhergehende Veränderung der Verwaltungspraxis.

Bisher hatte es im Ermessensspielraum des Arbeitgebers gelegen, einen ehemaligen Gestapo-Mitarbeiter einzustellen oder nicht. So hatte etwa der Personalprüfungsausschuss des Stuttgarter Polizeipräsidiums noch 1950 bezüglich der Bewerbung von Eugen Betz entschieden, es sei „unverantwortlich, bei der Polizei, die ein Sicherheitsfaktor des demokratischen Staates ist, derartige Beamte wieder einzustellen“. Betz war 1948 als ehemaliger Mitarbeiter des Erkennungsdiensts der Gestapo als Mitläufer eingestuft worden und hätte eingestellt werden können. Der Ausschuss argumentierte also dezidiert nicht formal oder juristisch, sondern mit der Verantwortung der Polizei beim Aufbau eines demokratischen Staats.

Diese Entscheidungspraxis änderte sich mit der Verabschiedung des Gesetzes zum Artikel 131 GG. Fortan standen die Interpretation des Gesetzestexts sowie die Einschätzung des beamtenrechtlichen Status des Bewerbers im Vordergrund. Der Arbeitgeber wurde so bei seiner Entscheidung politisch und moralisch entlastet. Die Folge war die Rückkehr zahlreicher einstiger Gestapo-Mitarbeiter in den öffentlichen Dienst und in die Polizei.

Das Polizeipräsidium Stuttgart stellte bis 1957 für den Dienst bei der Kriminalpolizei mindestens 14  ehemalige Gestapo-Mitarbeiter ein.

Anm.: In einer früheren Version des Textes war die Zahl der ehemaligen Gestapo-Mitarbeiter im Dienst der Stuttgarter Kriminalpolizei mit sieben angegeben. Nach jetzigem Stand der Forschung waren es mindestens doppelt so viele.

Das „131er-Gesetz“ regelte die Rechtsverhältnisse der Personen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs im öffentlichen Dienst gestanden hatten.

Fallbeispiele

Der SPD-Landtagsabgeordnete Friedrich Helmstädter richtete 1958 eine Kleine Anfrage an das baden-württembergische Staatsministerium und bat um Auskunft, „wie viele Bedienstete der ehemaligen Gestapo […] sich heute im Staatsdienst unseres Landes“ befänden. Das Staatsministerium bezifferte in seiner Antwort die Anzahl dieser Personengruppe auf 152.

Ob diese Zahl in Relation zu den insgesamt über 2.000 Männern und Frauen, die zwischen 1933 und 1945 für die Politische Polizei bzw. die Gestapo in Württemberg-Hohenzollern und Baden gearbeitet hatten, für hoch oder niedrig befunden wird, bleibt jedem Einzelnen überlassen. Die folgenden Fallbeispiele zeigen, dass die Ächtung der Gestapo als Organisation zwar Bestand hatte, paradoxerweise die ihrer Mitarbeiter aber schwand und das Bild des lediglich seine Pflicht erfüllenden Beamten wieder verstärkt bemüht wurde.

Viktor Hallmayer arbeitete ab Oktober 1951 im Hotel Silber. 1929 war er mit 18 Jahren in die württembergische Schutzpolizei eingetreten und nach dem Besuch eines Kriminallehrgangs 1940 zur Außenstelle der Gestapo in Ulm abgeordnet worden. Zwischen April 1943 und Juli 1944 arbeitete er beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Paris. Obgleich Hallmayer nach dem Krieg von den Franzosen als möglicher Kriegsverbrecher gesucht wurde, stellte die Spruchkammer 1950 das Verfahren gegen ihn ein. Ein Jahr später suchte die Dienststelle 8 der Stuttgarter Kriminalpolizei dringend einen erfahrenen Beamten. Die Dienststelle 8 fungierte im weitesten Sinne als eine Art Verfassungsschutz – sie ist allerdings nicht zu verwechseln mit dem 1951 gegründeten Landesamt für Verfassungsschutz. Die Mitarbeiter ermittelten gegen „Anreizung zum Klassenkampf“, „Staatsverleumdung“ und gegen Kriegsverbrecher. Sie arbeiteten darüber hinaus eng mit den Spruchkammern und den alliierten Stellen zusammen. Der Leiter der Dienststelle Hermann Faas, der 1938 wegen Kontakten zu sozialdemokratischen Kreisen wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt worden war und damit selbst zu den Verfolgten des NS-Regimes gehörte, setzte sich für Hallmayer trotz dessen Vergangenheit ein. Er suchte einen Kriminalisten, der in den politisch linken Kreisen noch unbekannt war und so unbemerkt Versammlungen beobachten konnte.

Hallmayer wurde gegen die Bedenken des Betriebsrats eingestellt. Ein Jahr nach Dienstantritt im Hotel Silber beurteilten ihn seine Vorgesetzten sehr positiv, wobei sie seine frühere Tätigkeit bei der Gestapo ausdrücklich als Qualifikation für seine neuen Aufgaben herausstellten. Als der Verwaltungsausschuss des Stuttgarter Gemeinderats 1958 von dem Einsatz eines ehemaligen Gestapo-Mitarbeiters in diesem hochsensiblen Tätigkeitsfeld erfuhr, bat er den Polizeipräsidenten aus Angst vor möglicher schlechter Presse um eine zeitweise Versetzung Hallmayers. Polizeipräsident Rau kam diesem Wunsch nach, betonte aber, dies lediglich aus taktischen und keinesfalls aus dienstlichen Gründen zu tun. Hallmayer arbeitete bis 1971 bei der Stuttgarter Kriminalpolizei. Bis 1976 besserte er seine Pension, für die seine Dienstzeit bei der Gestapo voll angerechnet wurde, mit Aushilfsarbeiten bei der Kriminalpolizei auf.

Rudolf Bilfinger war zwischen 1934 und 1937 als promovierter Jurist bei der Politischen Polizei bzw. der Gestapo in Stuttgart u.a. für „Schutzhaftangelegenheiten" zuständig und 1943 als Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Toulouse tätig gewesen. Nachdem er eine vom Militärgericht Bordeaux wegen Verbrechensvereinigung und Freiheitsberaubung verhängte achtjährige Haftstrafe verbüßt hatte, kehrte er 1953 nach Stuttgart zurück und wurde sofort vom Stuttgarter Verwaltungsgericht in den höheren Dienst übernommen. 1958 wurde er Verwaltungsgerichtsrat in Mannheim. Erst als in den 1960er Jahren die braune Vergangenheit Bilfingers durch Presseartikel öffentlich wurde, distanziert sich sein Arbeitgeber zögerlich von ihm. Bilfinger wurde auf eigenen Wunsch hin vorzeitig in den Ruhestand versetzt. Das Innenministerium empfahl dem Staatsministerium, von dem sonst üblichen Dank für Geleistetes abzusehen. 1981 stellte die Staatsanwaltschaft Stuttgart die Ermittlungen gegen Bilfinger wegen NS-Verbrechen ein.

Anton Abele war 1929 als 20-Jähriger in die württembergische Schutzpolizei eingetreten und im Mai 1940 „von Amts wegen“ zur Gestapo versetzt worden, wo er zuletzt vor allem Fälle von „Heimtücke“ bearbeitet hatte. Im ersten Spruchkammerverfahren wurde Abele von Zeugen schwer belastet, als Hauptschuldiger eingestuft und zu drei Jahren Arbeitslager verurteilt. Ein Berufungsverfahren hob dieses Urteil 1950 auf. 1951 wurde das Verfahren ganz eingestellt. Nachdem die Unterbringungsstelle des Landes Württemberg-Baden ihm bescheinigt hatte, dass er zu den Begünstigten des Gesetzes zum Artikel 131 GG gehörte, bewarb er sich um eine ausgeschriebene Stelle als Polizeiwachtmeister beim Bürgermeisteramt in Sindelfingen. Seiner Bewerbung legte er zwei eidesstattliche Erklärungen seiner ehemaligen Gestapo-Kollegen German Rieger und Hermann Mozer bei und betonte, er sei 1940 „kriegsbedingt“ zur Gestapo versetzt worden. Die Stadt Sindelfingen stellte ihn ein. Nach einigen Jahren wechselte Abele nach Böblingen und beendete seine Polizeilaufbahn 1969 als Kriminalobermeister bei der Polizeidirektion Esslingen. Jedoch holte ihn seine Vergangenheit zum Schluss doch noch einmal ein: Seine Dienstzeit bei der Gestapo wurde bei der Berechnung der Pensionsansprüche nicht berücksichtigt, da es sich bei den von Abele bearbeiteten „Heimtücke“-Fällen nicht um normale Polizeiarbeit, sondern um eine typische Gestapo-Tätigkeit gehandelt hatte.

Friedrich Feuersinger war bald nach seinem Schulabschluss der Mittleren Reife 1923 in den Polizeidienst eingetreten. Seit Oktober 1938 hatte er in der Verwaltung der Gestapo gearbeitet. Nachdem er 1947 zunächst als Belasteter eingestuft und zu zweieinhalb Jahren Arbeitslager verurteilt worden war, konnte er in einem Berufungsverfahren die Laienrichter der Berufungskammer glauben machen, als Verwaltungsbeamter der Gestapo im eigentlichen Sinne gar nicht angehört zu haben. Er wurde zum Mitläufer erklärt. Feuersinger fand eine Anstellung bei der Stadt Waiblingen. Um seine Anstellung zu legitimieren, bat er 1952 die Landespolizeidirektion, ihm einen Unterbringungsschein auszustellen  eine Bescheinigung, dass man zu den Begünstigten des Gesetzes zum Artikel 131 GG gehört. Dieser wurde ihm zunächst verwehrt, da erhaltene Akten des Innenministeriums belegten, dass er sich 1938 bei der Gestapo beworben hatte und demnach nicht „von Amts wegen“ versetzt worden war. Ein Jahr später entschied die Unterbringungsstelle jedoch, grundsätzlich allen ehemaligen Beamten der Gestapo-Verwaltung die vollen Rechte nach dem Gesetz zum Artikel 131 GG zu gewähren. Auch Feuersinger bekam daraufhin seinen U-Schein.

Unterbringungsschein für den ehemaligen Gestapo-Beamten Anton Abele, 12. Oktober 1951

Ehemalige Gestapo-Mitarbeiter beim BND

Die unter der Schirmherrschaft der CIA gegründete Organisation Gehlen, die 1956 in Bundesnachrichtendienst umbenannt wurde, bestand anfangs aus einem komplexen System von Zweig- und Außenstellen. Diese waren in Fragen der Personalauswahl weitgehend autonom: Weder gab es eine einheitliche Personalpolitik mit einem Katalog an bestimmten Auswahlkriterien hinsichtlich der Ausbildung und Qualifikation, noch gab es ein belastbares Verfahren zur Überprüfung möglicher Sicherheitsrisiken in den Lebensläufen der Kandidaten. Stattdessen etablierte sich ein System der Patenschaft. Die Mitarbeiter der Organisation Gehlen wurden aufgefordert, in ihrem Bekanntenkreis nach geeigneten Bewerbern Ausschau zu halten und gegebenenfalls für deren Eignung in fachlicher und charakterlicher Hinsicht zu bürgen. Oft reichte es, einen solchen Fürsprecher zu haben und einen kurzen Lebenslauf abzugeben, um den Anforderungen zur Einstellung Genüge zu tun. Diese unseriöse Personalpolitik förderte die Bildung von Netzwerken ehemaliger Kameraden innerhalb der Organisation Gehlen.

Diesem System der Patenschaft verdankten auch vier ehemalige Mitarbeiter der Gestapo in Württemberg und Hohenzollern ihre Einstellung. Den Anfang machte Heinrich Reiser. Als arbeitsloser SS-Mann war er der Politischen Polizei in Stuttgart als Hilfspolizist zugeteilt worden und bis 1938 dort geblieben. Es waren weitere Stationen innerhalb der Gestapo in Tábor, Paris und Karlsruhe gefolgt. Als SS-Obersturmführer und Kriminalkommissar war er 1945 in französische Haft geraten, aus der er im Juli 1949 entlassen worden war. Wenige Wochen später hatte die Staatsanwaltschaft Karlsruhe, die gegen Reiser wegen des Verdachts auf  Misshandlung und Mord an Zwangsarbeitern ermittelte, einen Haftbefehl ausgestellt. Nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft im Frühjahr 1950  ein Belastungszeuge hatte seine frühere Aussage relativiert  war Reiser dennoch ein begehrter Mann. Das amerikanische Counter Intelligence Corps (CIC) wie auch britische Stellen warben um seine Dienste, doch die Organisation Gehlen machte das Rennen. Alfred Benzinger, einst Mitarbeiter der Geheimen Feldpolizei und mit Reiser seit gemeinsamen Pariser Tagen 1941 bekannt, verpflichtete ihn im April 1950 für seine Dienststelle in Karlsruhe.

Das Aufgabengebiet dieser „Generalvertretung“ (GV) in Karlsruhe bestand vor allem in der Gegenspionage gegen die DDR. Reiser alias Hans Reiher alias Hans Roesner alias Hugo Reger alias Hugo Hoss alias Hans Reichardt bewährte sich. Benzinger protegierte ihn weiter und machte ihn zum stellvertretenden Leiter einer Zweigstelle. Ab Februar 1957 leitete Reiser eine eigene Ermittlergruppe in Stuttgart. In der Azenbergstraße wurden Büroräume für eine Tarnfirma angemietet.

Reiser bemühte sich, das Agentennetz im Südwesten zu erweitern und sprach 1952 Gerhard Heinrichs an. Heinrichs, 1909 in Erfurt geboren, hatte 1937 wie Reiser die Führerschule der Sicherheitspolizei in Charlottenburg besucht und ab 1940 für die Staatspolizeileitstelle Stuttgart gearbeitet. Reiser vermittelte ihn zunächst an das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg, das Heinrichs 1953/54 als freien Mitarbeiter und „V-Mann-Führer“ beschäftigte. In dieser Eigenschaft zeigte er nach Auffassung des Landesamts jedoch wenig Initiative. Er musste im September 1954 gehen. Das Landesamt beurteilte Heinrichs als für „eine Verwendung im Innendienst […] bei entspr. Führung eventuell geeignet“ (BND Archiv, Signatur P1/1529/1). Dass dieses Zeugnis der Organisation Gehlen genügte, ist bezeichnend für die Personalpolitik und die Ansprüche an neue Mitarbeiter. Zunächst arbeitete Heinrichs alias Georg Haffner alias Günther Hellwig alias Günther Hagedorn alias Holstein als freier Mitarbeiter für Reiser, bevor er im März 1956 fest angestellt und wie sein „Tipper“ auf dem Gebiet der Gegenspionage im Südwesten tätig wurde.

Heinrichs blieb nicht der einzige ehemalige Kollege, den Reiser anwarb. Franz Wiedmann arbeitete ab 1956 erst als freier Mitarbeiter und ab Februar 1957 als Festangestellter unter dem Decknamen „Waldeck“ für den mittlerweile in Bundesnachrichtendienst umbenannten und dem Kanzleramt unterstellten Dienst. Wiedmann, 1899 geboren und 1930 in die NSDAP eingetreten, war wie Reiser 1933 als arbeitsloser SS-Mann über die Hilfspolizei zur Politischen Polizei bzw. Gestapo in Stuttgart gekommen und dort zuletzt SS-Untersturmführer und Kriminalobersekretär gewesen. Nach dem Krieg war er in französische Gefangenschaft geraten, hatte aber fliehen und sich bis 1950 verstecken können.

Friedrich Walz, der vierte ehemalige Gestapo-Mitarbeiter aus Württemberg-Hohenzollern, wurde dagegen von seinem ehemaligen Vorgesetzten und Chef der Geheimen Feldpolizei Wilhelm Krichbaum alias Krug angeworben. Der 1910 geborene Walz war 1935 als Verwaltungsfachmann zur Politischen Polizei Württembergs gestoßen und mit Kriegsbeginn zur Geheimen Feldpolizei einberufen worden, wo er bis zum Leitenden Feldpolizeidirektor aufgestiegen war. Unter den Decknamen Wallach und Wanner arbeitete er wie seine früheren Kollegen Reiser, Heinrichs und Wiedmann in BND-Dienststellen in Baden-Württemberg.

Dort fand sich Anfang der 1950er Jahre auch Walter Vollmer wieder. Vollmer war während seines Jura-Studiums 1930 in die NSDAP und 1931 in die SS eingetreten. 1938 und 1939 arbeitete er für die Staatspolizeileitstelle Stuttgart, bevor er zur Zentrale nach Berlin und später zur Gestapo Trier und zum BdS Kiew wechselte. Nach dem Krieg hielt er sich unter falschem Namen in Norddeutschland versteckt, wo er wohl 1950 für die Organisation Gehlen angeworben wurde. Er wurde allerdings bereits im Sommer 1954 wieder entlassen.

Die ehemaligen Gestapo-Mitarbeiter konnten lange darauf zählen, dass ihre einstige Tätigkeit nicht als Belastung, sondern als fachliche Qualifikation angesehen wurde. Zum Teil gelang es ihnen gar, an frühere Aufgaben anzuknüpfen. Reiser etwa verstand es, innerhalb der Organisation Gehlen das Gespenst der „Roten Kapelle“ neu in Erscheinung treten zu lassen. Während des Kriegs hatte er in Paris in einer Spezialabteilung gearbeitet, die sich gegen Widerstandsgruppen und deren Funkverkehr mit sowjetischen Stellen gerichtet hatte. Diesem Komplex war damals die zusammenfassende Bezeichnung „Rote Kapelle“ gegeben worden. Im Sommer 1948 streute Reiser das Gerücht, er habe Leopold Trepper, einen der führenden Köpfe des kommunistischen Widerstands in Frankreich und Belgien, in Freiburg auf dem Bahnhof gesehen. Daran knüpfte er den Verdacht, die „Rote Kapelle“ sei noch aktiv. Er nutzte so die antikommunistische Strömung der Nachkriegszeit, um sich als letzten noch lebenden „Spezialisten“ zum Komplex „Rote Kapelle“ für die westlichen Nachrichtendienste interessant zu machen. Bei der Organisation Gehlen wurde er unter anderem mit der Aufklärung des vermeintlichen sowjetischen Spionagerings beauftragt. In diesem Zusammenhang versuchte er, weitere ehemalige Kollegen anzuwerben.

So sehr die „Ehemaligen" von den Netzwerken profitierten, so anfällig waren diese für Erschütterungen. Fiel einer, fielen andere mit. Ein solches Beben ereignete sich im November 1961, als Heinz Felfe und Hans Clemens, beide ehemalige Mitarbeiter des Sicherheitsdiensts im RSHA und beide seit 1951 im Bereich der Gegenspionage innerhalb der Organisation Gehlen tätig, als Doppelagenten des sowjetischen Geheimdiensts KGB enttarnt und verhaftet wurden.

Die Folgen für den BND waren gravierend. Neben der allgemeinen Peinlichkeit des Falls und dem unmittelbaren Schaden durch die verratenen Geheimnisse gerieten nun auch viele Details über die NS-Belastung des Personals an die Öffentlichkeit. Der BND stand da als eine klüngelhafte und dilettantisch arbeitende Behörde, die der Sicherheit der Bundesrepublik mehr schadete als nutzte und Kriegsverbrechern lieber Gehälter zahlte, als zu ihrer strafrechtlichen Verfolgung beizutragen.

Langfristig hatte der Skandal zur Folge, dass der BND die NS-Vergangenheit seiner  Mitarbeiter als mögliches Sicherheitsrisiko neu bewertete. Vor allem die Personen, die während des Kriegs für Dienststellen der Sicherheitspolizei oder des SD in den besetzten Gebieten gearbeitet hatten, wurden eingehend geprüft. Für diesen Zweck wurde eigens die Dienststelle 85 ins Leben gerufen. Waren die „Ehemaligen“ direkt und mittelbar an Gewaltverbrechen beteiligt gewesen? Könnten gegnerische Nachrichtendienste eventuell „Kompromate“ (Erpressungsmaterial) gegen sie in der Hand haben?

Auch Heinrich Reiser, Gerhard Heinrichs, Franz Wiedmann und Friedrich Walz wurden überprüft. Dabei stellte sich heraus, dass Reiser und Heinrichs von Clemens gegenüber dem KGB völlig enttarnt worden waren. Bei Reiser kam seine Beteiligung an so genannten Sonderbehandlungen, also Hinrichtungen von Zwangsarbeitern, während seiner Dienstzeit bei der Karlsruher Gestapo heraus; bei einer Vernehmung durch die Dienststelle 85 gab er zu, es habe sich um zahlreiche Fälle gehandelt. Ähnliches galt für Heinrichs, der als Leiter des Sachgebiets „Ausländische Arbeiter“ der Staatspolizeileitstelle Stuttgart an Hinrichtungen vor allem polnischer Zwangsarbeiter mitgewirkt hatte. Zudem hatte er zu Felfe dienstlich und privat eine enge Verbindung gepflegt.

Aus Sicht des BND gehörte auch Walz „zu dem Personenkreis, der mit einem gewissen Unbehagen zu betrachten ist. […] Die Si-Lage [Sicherheitslage] ist durch die Verstrickung des MA [Mitarbeiters] in den undurchsichtigen Gestapokreis erheblich beeinträchtigt“ (BND Archiv, Signatur 220121). Zu dieser Verstrickung zählte auch Walz’ Verbindung zu seinem ehemaligen Stuttgarter Vorgesetzten Wilhelm Harster. Dieser war als „Tipper“ tätig gewesen und hatte dem BND über seinen ehemaligen Untergebenen beim BdS Den Haag und späteren BND-Agenten Friedrich Frank wenigstens sechs ehemalige Kollegen vermittelt. Harster stand beim BND unter „Feindverdacht“. Auch die Tatsache, dass Walz von Krichbaum angeworben worden war, wurde als Belastung gewertet. Krichbaum war durch die Enttarnung von Felfe und Clemens in einen generellen Verdacht geraten, hatte er die beiden doch für die Organisation Gehlen gewonnen. Die Dienststelle 85 kam außerdem zu dem Schluss, Walz sei durch seine Tätigkeit für die Geheime Feldpolizei „hinreichend verdächtig, an Unrechtshandlungen beteiligt gewesen zu sein“ (BND Archiv, Signatur P1/2913/2). Walz wies diese Anschuldigung zurück.

Alle vier ehemaligen Stuttgarter Gestapo-Mitarbeiter galten dem BND nach der Überprüfung als nicht mehr tragbar. Es stellte sich jedoch als schwierig heraus, sie loszuwerden. Auch für den BND galt das Arbeitsrecht und langjährige Mitarbeiter des öffentlichen Diensts genossen wie heute einen besonderen Kündigungsschutz. Verdachtsmomente alleine reichten als Kündigungsgrund nicht aus. Freiwillig aber wollte keiner der vier gehen. Aus ihrer Perspektive nicht zu Unrecht beklagten sie, dass sie damals nicht trotz, sondern wegen ihrer Tätigkeit für die NS-Sicherheitspolizei eingestellt worden waren. Zudem war ihnen und auch dem BND klar, dass es äußerst schwierig sein würde, auf dem freien Arbeitsmarkt eine hinsichtlich der Vergütung auch nur halbwegs adäquate Beschäftigung zu finden. Ihre Legende durfte auch nach dem Ausscheiden nicht enttarnt werden und potenzielle Arbeitgeber schreckten verständlicherweise davor zurück, jemanden einzustellen, der über seine berufliche Tätigkeit der letzten zehn oder fünfzehn Jahre nur dürftige und nicht zu überprüfende Angaben machte. Arbeitgeber aber, denen gegenüber die Tätigkeit für den BND enthüllt werden durfte, hatten wenig Interesse an der Beschäftigung eines Mannes, der als Sicherheitsrisiko eingeschätzt worden war.

Im Fall Reiser fand sich dennoch recht schnell eine Lösung. Reiser erreichte 1964 das gesetzliche Pensionsalter und so verzichtete man auf eine Kündigung. Er wurde im Sommer 1964 beurlaubt und ging im Oktober 1964 in den Ruhestand. Heinrichs dagegen zog vor das Arbeitsgericht. Über Jahre zog sich der Streit hin, bis mit einer Abfindung und dem Versprechen des BND, ihn bei der Suche nach einer neuen Arbeitsstelle zu unterstützen, die Kündigung wirksam wurde. Heinrichs wurde am 31. Dezember 1964 „abgeschaltet“. Auch Walz schied 1965 im Streit vom BND. Er drohte mit einer Klage vor dem Arbeitsgericht, zu der es aber nicht kam. 1967 fand er eine Halbtagsstelle als Rechnungsprüfer. Wiedmann wurde ebenfalls aufgrund seiner politischen Belastung entlassen.

Ob mit dem Ausscheiden von Reiser, Heinrichs, Walz und Wiedmann das Kapitel ehemaliger Stuttgarter Gestapo-Mitarbeiter beim BND endete, steht noch nicht fest. In den Akten finden sich Hinweise auf weitere Personen aus diesem Kreis, die aber noch nicht identifiziert werden konnten.

Heinrich Reiser, August 1955
Gerhard Heinrichs, März 1956
Friedrich Walz, Juli 1955

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