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Der Tod des Samuel Danziger

Am frühen Morgen des 29. März 1946 sperrten rund 130 Schutzpolizisten und 80 Beamte der Stuttgarter Kriminalpolizei das jüdische Lager für Displaced Persons (DP) in der oberen Reinsburgstraße im Stuttgarter Westen ab. Bei den als DP-Camp bezeichneten Häuserblocks handelte es sich um von der Militärregierung für Flüchtlinge requirierte Wohnungen, in denen zu diesem Zeitpunkt etwa 1400 jüdische Polen wohnten.

Die Razzia, die die Stuttgarter Polizei bei der amerikanischen Militärregierung mit der Begründung beantragt hatte, im DP-Lager würden sich Schwarzmarktwaren befinden, eskalierte innerhalb kurzer Zeit. Auf der Straße kam es zum gewaltsamen Zusammenstoß zwischen der mit Gewehren und Pistolen bewaffneten Polizei und den Bewohnern der Reinsburgstraße. Dabei wurde der aus Radom stammende ehemalige Auschwitz-Häftling Samuel Danziger (polnisch: Szmuel Dancyger, manchmal auch Dancygier), der gerade erst in Stuttgart seine Frau und seine Kinder wiedergesehen hatte, von einem Polizisten erschossen. Erst jetzt schritt die amerikanische Militärpolizei, die die Razzia mit einigen Beamten begleitet hatte, ein und befahl der deutschen Polizei den Rückzug.

Der genaue Hergang der Eskalation lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Zu sehr unterscheiden sich die zeitgenössischen Darstellungen. Die Bewohner der Reinsburgstraße wie auch Vertreter der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) berichteten übereinstimmend, dass sich die DPs erst widersetzt hatten, als einige Männer verhaftet worden waren. Zu Angriffen auf Polizisten sei es erst gekommen, nachdem von diesen Schüsse abgegeben worden waren. Zu Recht wies die UNRRA auch darauf hin, dass es der deutschen Polizei nach Bestimmungen der Militärregierung untersagt sei, selbstständig in DP-Lagern tätig zu werden.

Die Polizei dagegen beharrte darauf, dass die Gewalttätigkeiten von den DPs ausgegangen seien und sie das Feuer erst eröffnet habe, nachdem sie aus Fenstern beschossen worden war. Unbeantwortet ließ sie die Frage, warum die Polizisten auf Menschen auf der Straße schossen, wenn doch aus oberen Stockwerken der Häuser auf sie gefeuert worden war. Polizeipräsident Karl Weber bedauerte vor der internationalen Presse den Prestigeverlust seiner Polizei, die den Einsatz nicht habe zu Ende führen können.

Die Stuttgarter Polizei rechtfertigte ihr Vorgehen als notwendige Maßnahme im Kampf gegen den Schwarzmarkt. Sie berief sich auf die Abstimmung mit der amerikanischen Militärpolizei, die den Bewohnern der Reinsburgstraße über Lautsprecher auch bekannt gegeben worden war. Tatsächlich aber trug die Polizei die Verantwortung für die Eskalation und den Tod von Samuel Danziger. Daran konnte weder der Hinweis auf ihre Durchsetzungspflicht von Recht und Ordnung noch der „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ durch die DPs etwas ändern.

Der ganze Einsatz war durch völlige Unverhältnismäßigkeit gekennzeichnet. Die Polizei suchte in der Reinsburgstraße keine Gewaltverbrecher, sondern Konservendosen. Dafür nahm sie wissend und billigend in Kauf, dass bei den Bewohnern, bei denen es sich fast ausschließlich um Überlebende der Konzentrations- und Vernichtungslager handelte, Erinnerungen wach wurden, die sie geradezu zum Widerstand verpflichteten. Dass diese Menschen es kaum widerstandslos hinnehmen würden, wenn erneut uniformierte, bewaffnete und von Hunden begleitete deutsche Polizisten ihre Straßen absperrten und sie aus ihren Wohnungen holten, hätte man bereits bei der Planung der Razzia wissen können und müssen.

Schwerer noch aber wiegt die Tatsache, dass die Befürchtungen der jüdischen Polen, einer voreingenommenen Polizei gegenüber zu stehen, berechtigt waren. Innerhalb der Polizei waren rassistische und antisemitische Ansichten allgegenwärtig. In den Berichten des „Chefs der deutschen Polizei der Stadt Stuttgart“ (später Polizeipräsidium) wurden die DPs durchweg als „minderwertige ausländische Elemente“ bezeichnet. Gegenüber dem Oberbürgermeister und der Militärregierung klagte die Polizeispitze, man könne die Reinsburgstraße nicht passieren, „ohne ernstlich befürchten zu müssen, die Handtasche oder den Mantel durch die dort herumlungernden ausländischen Elemente abgenommen zu bekommen.“ Auch der „deutschen Frau“ drohte wieder mal Gefahr von den „Ausländern“, denn diese könnte „es nicht wagen, bei Dunkelheit diese Straße allein zu begehen“.

Dieser Rassismus und Antisemitismus prägte aber nicht nur den Blick auf die DPs und das Verhalten der Polizei. Die stereotypische und im schnellen Takt wiederholte Stigmatisierung der DPs mit Zuschreibungen wie „kriminell“, „asozial“ oder „arbeitsscheu“ war an ein politisches Ziel geknüpft. Die Stuttgarter Polizei versuchte so, ein Bedrohungsszenario aufzubauen, um von der Militärregierung eine Ausweitung ihrer Kompetenzen und die Wiederbewaffnung zu erwirken (bis zum Herbst 1945 war die Polizei nicht mit Schusswaffen ausgestattet). Dabei lebten in Stuttgart im Vergleich zu anderen Städten nur recht wenige DPs, von denen keineswegs signifikant mehr Kriminalität ausging als von der übrigen Bevölkerung. Das galt auch für den Schwarzmarkt, an dem sich in den Nachkriegsjahren Stuttgarter nahezu aller Gruppen und Schichten beteiligten.

Tradierten Mustern folgend, kaschierte die Polizei den eigenen Machtanspruch als „Wille der Bevölkerung“. Einen Tag nach der abgebrochenen Razzia meldete Polizeirat Julius Schumm dem Oberbürgermeister, die „deutsche Bevölkerung der Stadt wünscht und hofft, dass zur Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Einkehr von Ruhe und Frieden die derzeitigen Bewohner der Oberen Reinsburgstraße sofort abtransportiert werden“. Es wäre wohl nicht weiter aufgefallen, wenn er von „Aussiedlung“ gesprochen hätte.

Ein Polizeibericht vom 1. April 1945 an das amerikanische Counter Intelligence Corps legte den Stuttgartern ein Bedauern darüber in den Mund, „daß die Polizei nicht unter Brechung jeden Widerstands ihre Aktion durchgeführt hat“. Wenn es nicht gelänge, den Antisemitismus in der Bevölkerung abzubauen, hieß es in dem Bericht weiter, seien „die Juden“ durch ihr Verhalten daran selbst schuld. Mit einer letztmöglichen Steigerung der Verzerrung wurde auch behauptet, viele der noch in Stuttgart lebenden jüdischen Polen, bei denen es sich tatsächlich um Überlebende der Konzentrations- und Vernichtungslager sowie der Todesmärsche handelte, seien deshalb noch nicht in ihre Heimat zurückgekehrt, weil sie dort „sofort wegen Zusammenarbeit mit der SS, dem SD usw. in Haft genommen“ werden würden. Damit wurden die Rollen von Tätern und Opfern endgültig vertauscht.

An diesen Äußerungen wird deutlich, dass der Aufbau einer zivilen und demokratischen Polizei nicht allein und auch nicht in erster Linie durch eine Säuberung der Polizei von ehemaligen NSDAP- oder SS-Mitgliedern erreicht werden konnte (die zudem auch kläglich scheiterte). Julius Schumm und Polizeipräsident Karl Weber waren 1933 von den neuen Machthabern als Gegner des Nationalsozialismus eingeschätzt worden und versetzt bzw. ganz aus dem Polizeidienst entlassen worden. Dies hatte aber nicht automatisch zu einer kritischen Sicht auf diskriminierende und rassistische Denk- und Handlungsweisen geführt.

Samuel Danziger wurde auf dem Friedhof in Bad Cannstatt beerdigt. Einen Trauerzug durch die Stadt hielt die Militärregierung für zu gefährlich und so stellte sie Lastwagen zur Verfügung, die den Leichnam und die Bewohner des DP-Lagers zur Beisetzung brachten.

Als Reaktion auf den 29. März und den Tod von Samuel Danziger verbot die Militärregierung wenig später der deutschen Polizei den Zutritt zu DP-Lagern.

Anmerkung: Die Zitate stammen aus den nachfolgend genannten Akten.

Stadtarchiv Stuttgart, 14/0, 4 (Der Chef der deutschen Polizei der Stadt Stuttgart an den Oberbürgermeister, 30. März1946); Stadtarchiv Stuttgart, 14/0, 49 (Wochenbericht an das CIC vom 2. November 1945; Wochenbericht an das CIC vom 16. November 1945; Wochenbericht an das CIC vom 30. November 1945; Situationsbericht an das CIC vom 1. April 1945)

Samuel Danziger, undatiert
Aufnahmen aus der Reinsburgstraße am Morgen des 29. März 1946
Aufnahmen aus der Reinsburgstraße am Morgen des 29. März 1946
Aufnahmen aus der Reinsburgstraße am Morgen des 29. März 1946
Aufnahmen aus der Reinsburgstraße am Morgen des 29. März 1946
Aufnahmen aus der Reinsburgstraße am Morgen des 29. März 1946
Aufnahmen aus der Reinsburgstraße am Morgen des 29. März 1946

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